Stakeholder erarbeiten HTA-Grundlagen für die Schweiz

Thomas B. Cueni · Generalsekretär Interpharma, Verband der forschenden pharmazeutischen Firmen der Schweiz

Wie in vie#len westlichen Ländern müssen sich auch in der Schweiz die Akteure im Gesundheitswesen künftig noch stärker der Diskussion über Kosten und Nutzen medizinischer Leistungen stellen als bisher. Im Rahmen des gemeinsamen Projekts SwissHTA haben sich deshalb Vertreter der Krankenversicherer, Ärzteschaft und Pharmaindustrie zusammengetan und ein Konsenspapier über die Anwendung von Health Technology Assessment (HTA) in der Schweiz erarbeitet.

Thomas B. Cueni

Chronische Krankheiten werden künftig massiv zunehmen und zusammen mit der demographischen Entwicklung zu den großen Herausforderungen für viele Industrienationen. Wirksame Prävention und rechtzeitige Behandlung vermindern das Leid der Betroffenen und können sowohl die Ausgaben im Gesundheitswesen als auch die bedeutend höheren volkswirtschaftlichen Kosten reduzieren. Aufgrund der begrenzten Ressourcen für Investitionen in die Gesundheit sind weltweit die Anstrengungen zur Bewertung medizinischer Leistungen verstärkt worden.

Mehr „value for money“

Auch in der Schweiz werden vor dem Hintergrund der Mittelknappheit im Gesundheitswesen die Fragen nach der Wirksamkeit von Gesundheitsleistungen und dem effizienten Einsatz der Mittel immer wichtiger. Zwar haben verschiedene Umfragen immer wieder gezeigt, dass eine Rationierung medizinischer Leistungen nach englischem Vorbild in der Schweiz nicht mehrheitsfähig ist. Therapien sollen Patientinnen und Patienten nicht aus rein finanziellen Gründen verweigert werden, selbst wenn sie den üblichen Kostenrahmen sprengen. Dies heisst aber nicht, dass damit auch eine Diskussion über die Wirtschaftlichkeit (Nutzen im Verhältnis zu den Kosten) von medizinischen Leistungen hinfällig wird. Damit wird klar, dass die zentrale Aufgabe für die Bewertung von Gesundheitsleistungen die Ausrichtung auf eine qualitativ hochstehende und effiziente Gesundheitsversorgung und mehr „value for money“ sein sollte. Ziele sind eine nachhaltige Finanzierbarkeit des Gesundheitssystems, nicht ins Unermessliche wachsende Versicherungsprämien sowie der gerechte Zugang zur Versorgung. Rationierung und fixe Kostenschwellen sind sicher keine Lösungen für die Schweiz, weshalb nach Alternativen gesucht werden muss.

HTA in der Schweiz lückenhaft

Die Durchführung von HTA in der Schweiz ist bisher uneinheitlich und lückenhaft. Obwohl das Krankenversicherungsgesetz bereits heute den Nachweis und die regelmäßige Überprüfung der Wirksamkeit, der Zweckmäßigkeit und der Wirtschaftlichkeit (WZW-Kriterien) für alle Leistungen verlangt, findet eine systematische Überprüfung eigentlich nur bei Arzneimitteln statt. Viele andere Leistungen mit unterschiedlicher Qualität und Effizienz werden indessen gar nie geprüft.

Sowohl auf Bundesebene als auch auf Kantonsebene hat es in der Vergangenheit mehrere politische Initiativen gegeben, die Qualität und Kosteneffizienz im Gesundheitswesen zu verbessern. Ein Pilotprojekt ging vom Kanton Zürich aus, der mit seinem Medical Board vor drei Jahren erste HTA-Berichte veröffentlichte. Obwohl die Trägerschaft des Medical Board in der Zwischenzeit erweitert wurde – um die Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren, Ärztevereinigung FMH und die Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW) –, hat dieses Modell verschiedene Schwächen: Es fehlen eine breit abgestützte Methodendiskussion sowie Ressourcen (nur gerade sieben Berichte in etwas mehr als drei Jahren), und die Beurteilungen des Medical Board haben reinen Empfehlungscharakter.

Stakeholder-Projekt

Um die bestehenden Impulse aufzugreifen und weiterzuentwickeln, haben sich verschiedene Stakeholder des Schweizer Gesundheitswesens im Projekt „SwissHTA“ zusammengetan, um in einem inklusiven und offenen Prozess einen Konsensvorschlag über die Eckwerte zur Bewertung von medizinischen Leistungen zu erarbeiten. Damit wurde die in der Schweiz bestehende Tradition des Dialoges zwischen den verschiedenen Anspruchsgruppen weitergeführt. Initiiert wurde das Projekt im Frühjahr 2010 vom Dachverband der Krankenversicherer, santésuisse, und dem Verband forschender Arzneimittelfirmen, Interpharma. Etwas später stießen die Ärztevereinigung FMH und die SAMW sowie als Beobachter das Bundesamt für Gesundheit (BAG) dazu und haben während einem Jahr in einem intensiven Diskussionsprozess ein Papier über die Weiterentwicklung von HTA in der Schweiz erarbeitet. Ihr gemeinsames Interesse war es, nicht nur ein Konzept für die Bewertung neuer medizinischer Leistungen zu erarbeiten, sondern auch einen HTA-Ansatz für die Überprüfung bestehender Leistungen zu entwickeln. Unterstützt wurde das Projekt von einem wissenschaftlichen Beirat, dem Prof. Michael Schlander, Heidelberg, Prof. Robert Leu, Bern, und Prof. Gérard de Pouvourville, Paris, angehörten. Das von allen beteiligten Organisationen unterzeichnete Konsenspapier ist im November 2011 dem Schweizer Gesundheitsminister sowie Verantwortlichen der Kantone zur Kenntnis gebracht worden.

Pragmatischer Ansatz

Die Beteiligten an SwissHTA sind sich einig, dass HTA pragmatisch und schrittweise entwickelt werden und auf dem bestehenden System aufbauen soll. Dabei soll dem Bund die Führungsrolle zukommen. SwissHTA hat HTA-Modelle in andern Ländern (u. a. England, Frankreich, Deutschland, Schweden) studiert und ist zum Schluss gekommen, dass ausländische Modelle nicht einfach auf die Schweiz übertragbar sind. Die Beteiligten sind sich aber einig, dass von internationalen Erfahrungen profitiert werden kann.

Besonders intensiv diskutiert werden die Methoden zur Bewertung des Nutzen-/Kosten-Verhältnisses. Fixe Schwellenwerte und die Abstützung auf eine einzige Methode (z. B. QALYs = quality adjusted life years) werden als ungeeignet betrachtet, da sie aufgrund ihrer Vereinfachungen Ungerechtigkeiten schaffen. Dies heißt nicht, dass es bei der Erstattungsfähigkeit von Leistungen keine Grenzen geben soll. Erfolgen soll dies jedoch aufgrund einer methoden-offenen Wirtschaftlichkeitsbewertung mit transparenten WZW-Kriterien. Vorgängig zur Bewertung der Wirtschaftlichkeit soll jedoch eine differenzierte Betrachtung der Wirksamkeit, d. h. des therapeutischen Mehrnutzens, stattfinden. Den Mehrnutzen neuer Therapien gegenüber dem „Standard of Care“ gilt es unter Berücksichtigung der Signifikanz, der Relevanz, der Größe des therapeutischen Effekts sowie des Vertrauens in die Evidenz in transparenten Nutzenkategorien zu bewerten. Explizit heißt es im Vorschlag, dass eine gewisse Unsicherheit in der Evidenzlage bei neuen Verfahren im Interesse eines patientenfreundlichen Zugangs zur Innovation in Kauf genommen werden muss.

Die erarbeiteten Eckwerte

Die Beteiligten von SwissHTA sind sich einig, dass HTA in allen Leistungsbereichen eingesetzt werden muss, also sowohl bei neuen als auch bei bestehenden Leistungen. Nach Meinung der Projektgruppe liegt das größte Potential zur Effizienzsteigerung bei der Überprüfung bestehender Leistungen. Würde HTA nur bei neuen Technologien eingesetzt, würde dies die lückenhafte Umsetzung der WZW-Kriterien noch verschärfen. Konkret empfiehlt SwissHTA zwei separate Verfahren für die Bewertung medizinischer Leistungen: einerseits „rapid HTAs“ (rHTA) und für bestehende Technologien andererseits „complete HTAs“ (cHTA). Bei beiden Verfahren sollen die WZW-Kriterien durch eine schrittweise und wissenschaftlich fundierte Bewertung operationalisiert werden. Innovationen sollen im rHTA-Verfahren rascher in den Leistungskatalog aufgenommen, aber mit grösserer Verbindlichkeit als heute überprüft werden. cHTA bietet die Chance, Qualität und Kosteneffizienz von komplexen Leistungen mit hohen Kostenfolgen für Gesundheitswesen und Volkswirtschaft zu verbessern. Eine Priorisierung für den Einsatz von cHTA bei bestehenden Leistungen durch den Bund unter Einbezug der Stakeholder wird als dringlich erachtet.

Umsetzung auch im bestehenden Rahmen möglich

Die Projektträger sehen für die Umsetzung der Vorgaben von SwissHTA keine bestimmte Organisationsform vor. HTAs könnten sowohl im Rahmen eines neuen nationalen Instituts wie auch im Rahmen der bestehenden Institutionen durchgeführt werden. Voraussetzung für eine erfolgreiche Umsetzung sind in jedem Fall die einheitliche Prozessführerschaft für HTAs auf Bundesebene, die Unabhängigkeit der für die Durchführung Verantwortlichen und eine genügende Ausstattung mit finanziellen Mitteln sowie dafür kompetentes Personal. Die Projektträger von SwissHTA wollen die Entwicklung von HTA weiterhin aktiv mitgestalten und den Bund unterstützen. Welchen Einfluss die Vorschläge der breit abgestützten SwissHTA-Gruppe auf die konkrete Ausgestaltung der Verfahren und Strukturen in der Schweiz haben werden, wird sich erst zeigen. Die Allianz von Ärzten, Krankenversicherern, Akademie und Pharmaindustrie ist allerdings bemerkenswert.

pharmind 2012, Nr. 1, Seite 20